Interview mit Alice Le Campion
Zur Neueröffnung von Chaussee 36 Photography präsentiert die Kuratorin Alice Le Campion gerade drei neue Ausstellungen mit großartigen Fotografen wie Erwin Blumenfeld und Olaf Heine.
Pünktlich zur zweiten Berlin Photo Week vorletzte Woche (10.-13. Oktober 2019) eröffnete die ehemalige Galerie 36 ihre neuen Räume in der selben Location, Chausseestraße 36 in Berlin-Mitte, unter dem Namen Chaussee 36 Photography. Dieser Ort für Fotografie ist nämlich mehr als eine kommerzielle Galerie, nur teilweise werden hier Werke an Sammler verkauft, um junge Künstler zu unterstützen und das Programm zu finanzieren, wie Initiator Renaud De Gambs erklärt. „Unser Ziel ist es, kuratierte Ausstellungen, die die Philosophie des Hauses reflektieren und talentierte Künstler zu zeigen“, erzählt die Kuratorin Alice Le Campion, die jetzt seit zweieinhalb Jahren Chaussee 36 leitet.
Da das gesamte Gebäude zur Chaussee 36 gehört, bilden den Auftakt gleich drei Ausstellungen. Im neuen Atelierhaus im Hof, dem größten Raum, zeigt die Ausstellung „Saudade“ („Sehnsucht“ auf Portugiesisch) von Olaf Heine großartige großformatige Fotos eines Brasiliens, das einige Jahre vor Präsident Jair Bolsonaro noch als Sehnsuchtsort galt – mit seiner Natur, futuristischen Architektur und natürlich den schönen Brasilianerinnen.
Der Hofkeller „The Whisper“, ein ehemaliger Pferdestall, wurde zu einem loungigen Ausstellungsraum mit roten Sofas und Bar umgebaut. Hier sind in der Ausstellung „Chasing Dreams“ um die 40 vorwiegend Vintage-Abzüge von einem der einflussreichsten Fotografen des 20. Jahrhunderts zu sehen: Erwin Blumenfeld. Ein Großteil wird sogar zum allerersten Mal gezeigt. Es sind nämlich nicht die stilisierten Vogue-Bilder der 40er und 50er, an die bei seinem Namen oft gedacht wird, sondern experimentelle, DaDa-inspirierte Fotos und Kollagen weiblicher Akte, die den Körper der Frau feiern ohne ihn zu sehr zu sexualisieren.
In der Gruppenausstellung „Walls Come Tumbling Down“ mit Arbeiten unter anderem von Renaud De Gambs, Leonard Freed, Will McBride und Daniel Müller Jansen wird anlässlich des 30. Jubiläums des Berliner Mauerfalls das Thema Grenzen auf der gesamten Welt betrachtet. Sie ist im „Parisian Salon“ im linken Seitenflügel des Hofs zu sehen.
Alice Le Campion gehört zu den Personen, die dir sofort sympathisch sind. Das liegt nicht nur an dem zauberhaften französischen Akzent der in der Provence geborenen 36-Jährigen, sondern auch an ihrer echten Begeisterungsfähigkeit für die Kunst. Ich traf sie zur Eröffnung, um mit ihr über ihren Weg zur Fotografie und ihren Ansatz als Kuratorin zu reden.
Die Ausstellung „Saudade“ läuft noch bis zum 10. November. „Chasing Dreams“ und „Walls Come Tumbling Down“ sind sogar noch bis zum 30. November in den Räumen von Chaussee 36 Photography, Chausseestr. 36 in Berlin-Mitte, zu sehen.
Wie bist du zu Chaussee 36 gekommen?
Das war ein Zufall! Ich habe ganz viel in der Kunst gearbeitet, mit jungen Künstlern, und als Kuratorin. Das war dann hier eine neue Herausforderung.
War das vorher auch in der Fotografie?
Non. Ich habe zuerst viel im Bereich moderne Kunst gearbeitet in Museen und Stiftungen in Frankreich, Nizza. Ich habe dort meine Masterarbeit geschrieben und in der Fondation Maeght und im Musée Matisse gearbeitet. Das war der Anfang meiner Karriere. Und dann bin ich nach Berlin gezogen und habe ganz viel mit der sogenannten „Post Internet Generation“ im Bereich Videokunst und Installationen gemacht. Danach habe ich angefangen im Bereich Fotografie zu kuratieren mit jungen Künstlern. Und da habe ich sofort gedacht: Die Fotografie ist mein Ding (lacht).
Wann bist du nach Berlin gekommen?
Das war vor acht Jahren.
Wie wählst du die Künstler aus, die hier ausstellen?
Es gibt mehrere Themen im Haus, die auch unserem Gründer wichtig sind, dazu gehören zum Beispiel Europa und Geschichte oder auch Umwelt und Architektur. Ich versuche das Ausstellungsprogramm immer an Hand dieser Themen zusammenzustellen. Zum Beispiel möchte ich gern die Geschichte Berlins mit dem Thema Metropolen ergänzen. So zeigen wir, wie sich die Städte verändern und gesellschaftliche Strömungen in der Architektur sichtbar sind. Und wir haben auch einen Schwerpunkt in der Aktfotografie.
Es gab die Ausstellung „Women On View“ und jetzt die Akte von Erwin Blumenfeld.
Genau, und ich habe auch die Ausstellung von Karin Székessy co-kuratiert. Das war eine Einzelausstellung, die gegenüber „Women On View“ gezeigt wurde. Bei „Women on View“ wurde ja gezeigt, wie Frauen in der Werbung porträtiert wurden über einen Zeitraum von fünf Jahrzehnten – nicht nur chronologisch, sondern auch nach Themen. Es gab wirklich eine Evolution in der Darstellung, aber trotzdem waren sie ‚Objekt der Begierde‘, das wollte ich zeigen. Dem gegenüber stand die Ausstellung von Karin Székessy, die ganz viel Frauen fotografiert und Akte macht – aber natürlich mit weiblicher Sensibilität. Bei Blumenfeld werden die Frauen auch nicht sexualisiert, natürlich gibt es eine ‚erotic tension‘, aber hier wollte ich wirklich seinen experimentellen Ansatz zeigen. Die Technik, die er benutzt, also diese Arbeiten in der Dunkelkammer, sind natürlich fantastisch. Das ist auch ein Rückgang zur Analogfotografie, was uns wichtig ist. Wenn wir jetzt junge Künstler zeigen, ist das natürlich mehr digitale Fotografie, aber trotzdem setzen wir diesen Schwerpunkt auf Analogfotografie. Wir haben hier auch ein Fotolabor und bieten im Rahmen der Blumenfeld Ausstellung verschiedene Workshops zum Thema Mehrfachbelichtung und Solarisation an.
Gibt es Künstler, die du in Zukunft besonders gern hier ausstellen möchtest?
Ja, es gibt viele junge Künstler. Und was ich auch machen möchte, ist viel mehr Fotografinnen ausstellen. Das ist mir wirklich sehr wichtig. Es gibt eine Künstlerin, die ist ganz toll und nächste Woche verreise ich nach Paris zur Paris Foto und werde sie da treffen und ihr Archiv sehen, Cathleen Naundorf. Das ist so fantastisch, was sie macht, und ich würde sehr, sehr gern eine Ausstellung mit ihr hier im Haus machen. Ich kuratiere auch sehr gern Einzelausstellungen, bei denen der Fokus auf einem Aspekt der Arbeit liegt, das ist mir sehr wichtig.
So sieht man einen nicht so offensichtlichen Aspekt, der sonst vielleicht untergehen würde in einem breiten Spektrum?
Genau, genau. Ich möchte immer etwas Neues machen. Auch jetzt bei Blumenfeld.
…und nicht das zeigen, was jeder schon kennt von ihm.
Genau, man kennt seine Farbfotografien, seine Fashion-Arbeiten oder seine Fotomontagen vom Krieg, von dem er so fasziniert war. Und wir so: Nein, wir zeigen das, was noch nie gezeigt wurde!
Wie wirst du auf die jungen Fotografen aufmerksam?
Ich recherchiere viel und besuche auch viele Ausstellungen. Ich verreise auch ganz oft nach New York. Ich bin immer zwischen Berlin und New York, da habe ich sehr viele Künstler kennengelernt. Und auch durch Sammler. Wenn ich Ausstellungen kuratiere, arbeite ich gern mit Leihgaben von Sammlern, das erlaubt ihnen auch, ihre Sammlung zu zeigen. In der „Chasing Dreams“ Ausstellung habe ich zum Beispiel zwei Stücke von einem Sammler, der auch für das Wochenende hier ist. Und natürlich coup de cœur. Ich bekomme viele Empfehlungen von Künstlern, die mir über ihre Entdeckungen erzählen. Es gibt so viele tolle Künstler.
Hast du in New York gelebt oder wie kommt es, dass du so oft da bist?
Schon damals, als ich die Galerie Societé in Berlin geleitet habe, wohnten die meisten Künstler in New York, daher war ich ganz oft dort und auch auf der Messe.
Welche sind deine Lieblingsgalerien in Berlin oder international?
Also international ist die Peter Fetterman Gallery [in Los Angeles] natürlich ganz toll. Die Howard Greenberg Gallery [in New York] ist für mich wirklich die Allerbeste. Eine Ausstellung, die mich da besonders fasziniert hat, war über Saul Leiter. Das waren alte Vintage-Abzüge, über die er gemalt hatte. Fantastisch, fantastisch!
Was inspiriert dich bei deiner Arbeit?
Ich würde sagen, gesellschaftliche Strömungen. Ich denke immer erst an das Publikum und an die Künstler. Das sind meine Interessen. Und ich probiere natürlich gern Neues aus.
Was war der beste Rat, den du je bekommen hast?
Alles ist möglich. Es gibt nichts Unmögliches.
Mehr über Chaussee 36 Photography gibt’s auf www.chaussee36.photography, bei Instagram und Facebook.