Essen auf der Insel

Ein Trip nach Ponza offenbart die leidenschaftliche Esskultur, Lebensfreude und das Understatement der italienischen Insel.

Wagyu-Entrecôte aus Australien, Beluga-Kaviar aus dem Kaspischen Meer oder Champagner – oft meinen wir, nur durch exklusive und vor allem weithergeholte Zutaten zum ultimativen Geschmackserlebnis zu gelangen. Dass weniger Auswahl nicht weniger Spaß und vor allem Genuss am Essen bedeutet, zeigt eine Reise auf die italienische Insel Ponza. Hier leben rund 3500 Menschen, die sich überwiegend von ihren heimischen Produkten ernähren. Unter ihnen finden sich jedoch nicht weniger Gourmets als bei uns. In ausgebuchten Restaurants bekochen Sterneköche internationale Stars. Anders als so oft, herrscht hier aber kein angestrengtes Gepose, sondern eine erstaunlich familiäre Atmosphäre. Gemeinsam mit zwei Freunden lerne ich neue Leute, eine neue Küche und vor allem eine neue Lebenseinstellung kennen.

Wir erreichen Ponza nach guten 50 Minuten mit dem schnellen Boot von Anzio aus. Die Stadt liegt eineinhalb Stunden mit dem Auto von Rom entfernt. Die knapp acht Quadratkilometer große Insel im Tyrrhenischen Meer gehört zusammen mit Zannone, Palmarola und Gavi zu den Pontinischen Inseln in der Region Latium. Anscheinend ist sie nur bei uns Deutschen noch weitestgehend unbekannt. Hingegen legen hier britische, amerikanische oder australische Yachten immer wieder gern an. Besonders aber die Römer zieht es in den Sommermonaten hierher, wenn ihre Stadt am stärksten von Touristen belagert wird. Hier können sie sich entspannen, ohne das Gefühl zu haben, selbst Tourist zu sein. Denn auch wenn die Insel international kein Geheimtipp mehr ist, benehmen sich die Besucher hier auffallend unauffällig. Englisch ist kaum zu hören, auch die Speisekarten sind überwiegend auf Italienisch. Optisch gleichen sich die Gäste dem legeren Kleidungsstil der Inselbewohner an. Weiße Leinenhosen und -hemden, dunkelblaue Kaschmirpullover und Espadrilles gehören zur Uniform, die in den kleinen Boutiquen am Hafen zu horrenden Preisen erstanden wird. Denn auch wenn es hier niemand zeigt, wer nach Ponza kommt hat Geld. Und das wird vorzugsweise fürs Essen ausgegeben. Egal ob bei Restaurantbesuchen oder 5-Gänge Diners zu Hause unter Freunden – Genuss von gutem Essen ist für die Ponzianer Lebensgrundlage.

Die ersten Schritte auf der Insel führen Romy, Emanuele und mich also zu Alimentari, einem kleinen Laden am Hafen mit einer großen Auslage frischer Früchte und unterschiedlicher Gemüsesorten. Drinnen finden wir viele Päckchen mit Hülsenfrüchten, besonders Ackerbohnen und Linsen sind beliebt. Daneben gibt es natürlich auch Produkte wie Risotto, Polenta, Kartoffeln oder Fleisch in allen Variationen, die mit der Fähre vom Festland kommen. Kommerzielle Supermärkte gibt es nicht, stattdessen kleine, spezialisierte Läden von älteren Ponzianern. Unser Freund und Gastgeber Emanuele besorgt jede Menge Kirschtomaten, Büffelmozzarella, grüne Feigen, Zitronen, Wasser- und Cantaloupemelone. Nächster Halt: Ponzas Pescheria U’Iscaiuolo. Die Tür zur belebten Straße steht weit offen und so bietet sich uns der Blick auf einen direkt am Eingang liegenden Schwertfisch ohne Kopf. Frischer Fisch ist das Hauptnahrungsmittel auf Ponza. In dem über drei Kilometer tiefen Meeresgraben fühlen sich viele Fische wohl und die Inselfischer haben gut zu tun. Sie beliefern die ungefähr 50 Restaurants Ponzas sowie das Festland unter anderem mit frischem Thun- und Schwertfisch, Sardinen, Sardellen, Brasse, Drachenkopf, Barsch, Makrelen sowie Scampis, Shrimps oder Hummer. Wir nehmen fünf dicke Stücke Schwertfisch und frischen Thunfisch fürs Abendessen. Bei Emanuele im Gästehaus warten schon seine Freunde Golshiftehh und Louis aus Paris auf uns.

Mit einem Stück Pizza in vom Fett gezeichnetem braunen Packpapier aus Ponzas ältester Bäckerei, der Pollo al Forno, geht es mit dem Auto weiter Richtung Cala Feola. Das Auto ist ein gemieteter gelber Fiat Geländewagen, bei dem die Löcher im Boden mit Fußmatten bedeckt sind und der erst nach drei Versuchen anspringt. In Emanueles blau-weißem Haus angekommen, beginnt er auch kurze Zeit später mit den Vorbereitungen fürs Dinner. Es ist kurz nach 21.00 Uhr, als wir an dem großen Tisch auf der Terrasse unter dem Weinblätterdach zusammensitzen. Eigentlich etwas früh zum Essen, sagt er. Wie im Süden üblich, ist es auch auf Ponza keine Seltenheit um 23.30 Uhr noch einen Teller Pasta zu bestellen. Und da sich das Dinner immer über mindestens drei Gänge erstreckt, sitzen die Italiener gern bis spät in die Nacht beim Essen.

Bei uns gibt es heute einen kalten Salat mit leicht angebratenem, innen rohem Thunfisch, Zitronenzesten und roten Zwiebeln, Olivenöl, etwas Salz und Pfeffer. Dazu Tomate, Büffelmozzarella und Basilikum sowie die mit Parmaschinken umwickelten grünen Feigen. Hauptgericht ist der Schwertfisch, gegrillt mit Tomaten und Knoblauch. Fast so wichtig wie das Essen selbst, ist der Weißwein dazu. Viele Ponzianer bauen ihn selbst auf ihren Terrassen an. Das Klima ist ideal. Besonders beliebt ist der Fieno bianco und der Spumante Pizzicato bianco, aber auch der Dessertwein Passito, den schon die Römer hier anbauten, wird immer noch hergestellt.

Zum Nachtisch gehen wir zu DER Institution der Insel. Die kleine Gelateria Creperia Blumarine auf dem Corso Carlo Pisacane mit der gelb-weiß-gestreiften Markise, dem bunten, handgeschriebenen produzione artigianale auf der rosa Wand und den Krokodilen im Comic-Stil gehört zu Ponza wie der frische Fisch. Ihre Wände sind innen lückenlos gefüllt mit Unterschriften, Komplimenten und Anekdoten von zufriedenen Gästen, darunter auch Michael Douglas, Naomi Campbell und Monica Bellucci. Die Inhaberin Katia freut sich immer über neue Berühmtheiten in ihrer Eisdiele. Und so besteht sie auch gleich darauf, dass Golshifteh und Louis an ihre Wand schreiben. Die iranische Schauspielerin Golshifteh Farahani hatte ihren ersten internationalen Erfolg an der Seite von Leonardo DiCaprio in Der Mann, der niemals lebte. Der Film war jedoch gleichzeitig auch Auslöser von Schwierigkeiten mit den Behörden in ihrer Heimat, da er die iranische Regierung negativ darstellen würde. Als sie das Land danach für eine weitere Hollywoodrolle in Prince of Persia verlassen wollte, wurde ihr die Ausreise verweigert. Daraufhin ist sie schließlich nach Paris geflohen, wo sie Louis Garrel kennengelernt hat. Auch er ist Schauspieler und Regisseur von einigen Kurzfilmen, wie Petit Tailleur, der ihm 2010 eine Einladung zu den 63. Filmfestspielen von Cannes einbrachte.

Katia empfiehlt uns das besonders beliebte, fast schwarze Schokoladeneis ohne Milch oder Sahne. Es besteht nur aus Kakaobutter, -pulver, Wasser und Zucker und hat daher seinen puren, leicht herben Schokoladengeschmack. Aber auch andere Sorten wie die Kombinationen aus Haselnusscreme, karamellisiert-gerösteten Mandeln, Kaffeesauce und Keksstücken erklären, warum dieses Eis auch über die Inselgrenzen hinweg von vielen Besuchern als „das beste der Welt“ bezeichnet wird.

Nach je drei Kugeln ist es Zeit für die Bar Tripoli – oft als Hotspot Ponzas bezeichnet. Doch auch hier geht es eher familiär zu. Es wird ein ruhiger Abend mit Aperol Spritz, zu dem die Kellnerin Erdnüsse, Chips, Cracker und grüne Oliven serviert. Ebenfalls zum Espresso gibt es die gleichen Beilagen. Der wird hier den ganzen Tag über getrunken. Oft am Tresen noch brühend heiß in einem Schluck weggekippt – und weiter geht’s.

 

Am nächsten Tag steht eine Bootstour zur unbewohnten Nachbarinsel Palmerola an, mit einem Snack der besonderen Art. Auf halber Strecke hält Emanuele das Boot an, lässt es ein wenig treiben, um dann unser getrocknetes Brot ins Meer zu tunken und es mit in Olivenöl eingelegten, kleingeschnittenen Kirschtomaten zu essen. „Gewidmet dem Gott des Meeres“, sagt er und fügt hinzu, „das Wasser ist hier absolut rein.“ Natürlich übertrieben, aber der Blick durch das türkisfarbene Meer auf den Grund beruhigt uns etwas. Leicht angewidert tun wir es ihm nach. Und auch wenn unter den anderen eine schiere Begeisterung ausbricht, bleibe ich doch beim trockenen Brot.

 

Der Abend kommt und mit ihm unser erster Restaurantbesuch auf Ponza. Mit einem kleinen Motorboot werden wir „zu einem der romantischsten Restaurants“ gefahren, schwärmt Emanuele. Es ist bereits dunkel und schon vom Boot aus sehen wir viele kleine Kerzen, die den Weg vom Strand über eine Treppe im Felsen hin zum Restaurant weisen. Mitten in diesem Felsen befindet sich das Solo a Vela – Da Enzo. Im überdachten Teil liegt eine Kochnische sowie die Bar, während die Gäste an robusten Holztischen auf der Terrasse unter freiem Himmel sitzen. Von der Holzdecke hängen Windlichter, die auch auf dem Boden stehen und ein warmes, aber doch sehr dezentes Licht geben. Den ersten Gang erkenne ich kaum auf dem Teller. Und da es auch keine Speisekarte gibt, ist der Geschmack neben dem Geruch der einzige Sinn auf den wir uns verlassen müssen. Jeden Tag wird ein anderes 7-Gänge-Menü mit den Zutaten, die gerade frisch auf der Insel zu bekommen sind, angeboten. Reservieren ist Pflicht, denn Enzo und sein Team kochen nur für so viele Leute, wie sich angekündigt haben. „Am Anfang habe ich hier nur meine Freunde bekocht“, erzählt der Küchenchef und Besitzer, „doch mit der Zeit brachten sie immer mehr Freunde und irgendwann habe ich mich dann entschlossen, ein Restaurant daraus zu machen.“ Und es läuft sehr gut. „Wir sind jeden Tag ausgebucht“, sagt Enzo. Die Gäste wissen zwar nicht, was sie essen werden, aber sie können sich auf die Qualität verlassen.

Unser Menü startet mit einer Platte hauchdünn geschnittenem rohen Thunfisch unter Kirschtomaten, roten Zwiebeln und Olivenöl, danach ein Teller panierter, zart und knusprig gebratener Sardellen. Außerdem stehen ein Korb mit Ciabatta und je zwei Karaffen Wasser und Weißwein auf dem Tisch. Das Brot hat genau die richtige außen krustige, innen gummiartige Konsistenz. Es folgt ein kleiner Makrelen-Spieß. Dann serviert uns Enzo persönlich Spaghetti mit Drachenkopf und Kirschtomaten, keine Sauce, nur mit einem Blättchen Basilikum dekoriert und gewürzt mit Ponzas Rosmarin, Oregano und Kapern. Die Nudeln sind nicht nur al dente, sie können durchaus als überwiegend roh bezeichnet werden. Dennoch, der Fisch ist zart und hervorragend. Da wir zu Beginn über die Anzahl der Gänge im Unklaren gelassen wurden, sind die drei Riesenshrimps auf Salatblättern nach der Hauptspeise eine echte Überraschung. Vor dem abschließenden saftigen Schokoladenkuchen aus Zartbitterschokolade und dem dazugehörigen Espresso gibt es noch ein dickes Stück fruchtige Wassermelone. Kein erschlagendes Völlegefühl, sondern eine Rundum-Zufriedenheit stellt sich ein, als wir die steinerne Treppe hinunter zum Steg laufen. Es ist ein Uhr als uns das Boot mit demselben italienischen Jungen unter einem sternenbedeckten Himmel wieder zum Strand von Frontone bringt.

„Den schönsten Platz hab ich mir bis zum Schluss aufgehoben“, sagt Emanuele am nächsten und letzten Tag. Gegen 22.00 Uhr machen wir uns auf den Weg ins La Marina. Das Restaurant liegt nur ein paar Stufen entfernt, direkt am Strand Cala Feola. Auch unsere Nachbarin Silvia Venturini Fendi kommt öfters her. Genau wie ihre zwei Schwestern hat sie von ihrer Mutter Anna Fendi ein Haus auf der Insel geschenkt bekommen.

Auf halber Strecke den Berg hinunter hören wir bereits das Gelächter von der kleinen überdachten Terrasse mit den bunten Lichtern. Als wir ankommen, werden Golshifteh, Louis und Emanuele sofort überschwänglich von Aniello und Gennaro begrüßt. Die beiden italienischen Brüder haben vor ungefähr acht Jahren, so genau wissen sie es selbst nicht mehr, das Restaurant neben ihrem Bootsverleih gegründet. Zunächst war es nur eine kleine Bar, doch durch ihre guten Kontakte zu den Fischern haben sie schon bald einige Gerichte angeboten. Die Boote liegen immer noch am Strand und können ausgeliehen werden.

Nachdem Emanuele Romy und mich vorgestellt hat, gehen wir alle mit in die Küche. Eine ältere Italienerin, aber nicht die Mutter der beiden, steht an der mit Schüsseln voller Gemüse, Olivenölfalschen und De Cecco-Pasta zugestellten Küchenzeile und schneidet unbeirrt Tomaten. Auf dem Herd liegen drei Fischskelette mit Schwanzflossen in einer Auflaufform. Die Wände sind vollgehängt mit Pfannen und Kellen aus Metall. Ist in dieser kleinen Küche mal ein Platz frei, steht dort ein volles Weinglas – und davon gibt es einige. Wahrscheinlich würde das deutsche Gesundheitsamt den Laden sofort dicht machen, aber hier stört das niemanden. Stattdessen kommt Aniello aus dem Kühllager zurück, in der einen Hand einen circa zwei Meter langen Aal in der anderen einen Thunfisch, den er Emanuele überreicht. Den Aal bekommt Golshifteh umgelegt. Ohne jegliche Berührungsängste posieren die beiden mit den toten Fischen. Doch damit nicht genug. Jetzt kommt Gennaro mit einem lebenden Hummer in die Küche. Er wirkt halb gefroren und wird jetzt an den Fühlern Louis übergeben, der sich sichtlich freut, dass ihm diese besondere Ehre zuteil wird. In mir steigt das Bedürfnis das Tier zu retten. Doch da ich mit meinem Mitgefühl allein dastehe, fange ich an Bilder zu machen.

Zurück am Tisch und noch leicht unter Schock starten wir mit einem Krabben-Thunfischcocktail, der durch frischen Ingwer überrascht. Anschließend geht es mit Barsch in einer Zitronensauce weiter. Eigentlich als Hauptgericht gedacht, doch da niemand von diesem mageren Fisch in der leichten Sauce satt wird, bekommen wir noch eine Portion Paccheri mit Hummerkaviar auf handbemalten La Marina Tellern. Auch diese Nudeln, die wie größere und dickere Penne aussehen, sind molto al dente, aber mittlerweile sind wir auf den Geschmack gekommen. Zum Dessert gibt es Salame di Cioccolato. Hört sich gewöhnungsbedürftig an, schmeckt leider auch so. Eine dicke Rolle aus kaum gesüßter Schokoladenpaste mit Kekskrümeln, die Salamifett suggerieren. Sobald das Essen beendet ist, packt Golshifteh ihr Hang aus und beginnt ohne ein Wort mit beiden Händen auf der stählernen Halbschale zu spielen. Sofort stellt sich auf der Terrasse eine fast andachtsvolle Stille ein, in der alle Gäste gebannt den tranceartigen Klängen dieses schweizer Instruments lauschen.

Neben Aniello und Gennaro sitzt auch der älteste Bewohner Ponzas in unserer Runde. Salvatore ist 93 Jahre alt. Er ist nicht viel kleiner als die anderen Männer, bewahrt aber eine sehr aufrechte Haltung. In seinem gebräunten Gesicht zeichnen sich tiefe Falten, die wirken, als kämen sie ausschließlich vom Lachen. Sein ganzes Leben hat er hier als Fischer gearbeitet. Jeden Morgen ist er bei den ersten Sonnenstrahlen mit seinem kleinen Holzboot raus gefahren. Jetzt genießt er das Meer lieber vom Strand aus. Doch hin und wieder begleitet er seine jüngeren Kollegen, erzählt der Italiener und grinst. Dann zündet er sich eine Zigarette an. Seine zufriedene Gelassenheit gleicht der eines Zen Meisters. Was ist sein Geheimnis, frage ich ihn. „Gutes Essen, guter Wein, eine Meeresbrise und viel Freude“, sagt Salvatore, bevor er Golshifteh auf die Tanzfläche folgt.